Musik
geschrieben von:
Coolwater
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Datum: 08. Mai 2003 18:18
Was dabei herauskommt, wenn man haar- und zahn- und ahnungslosen Greisen die Deutungshoheit über die Jahrzehnte überläßt, zeigt in erschreckender Weise die derzeitige Ausgabe von "Focus": Eine Liste der "hundert besten Songs aller Zeiten" soll das sein, was da präsentiert wird. In den vordersten Plätzen drängen sich natürlich wieder die üblichen "Songs" von No-Name-Bands wie den Beatles, Kinks oder den Beach Boys, die zwar ganz nett sind, aber allerhöchstens zum lauen Mitschunkeln geeignet sein mögen und kaum die Ehrung verdienen, die ihnen hier zuteil wird.
Es findet sich kein einziges Lied von Depeche Mode in der Liste und auch die sanften Schmuseballaden von Rammstein oder KMFDM sucht man hier vergeblich. Einige Lieder in der Liste stehen zu recht dort, aber das Gesamturteil kann man nur in Bausch und Bogen verwerfen: 2 der angeblich "hundert besten Songs aller Zeiten" sind aus den 50ern, sage und schreibe 43 aus den 60ern, 22 aus den 70ern, die 80er und 90er unterliegen mit 19 bzw. 14 Liedern hoffnungslos.
In einer tatsächlich objektiven, das heißt von mir vorgenommenen einzig wahren Liste der 100 besten Lieder aller Zeiten wären wohl 95 % oder mehr aus den letzten 25 Jahren. Und wenn die 60er und 70er dort kaum vertreten wären, dann bedeutet das eben, daß sie dort nichts zu suchen haben und hörenswerte Populärmusik tatsächlich erst in den späten 70ern entstanden ist. "I heard it through the Grapevine" von Marvin Gaye landet in der Focus-Liste auf Platz 1, "Fade to Grey" von Visage auf Platz 100 - Umgekehrt wird ein Schuh draus, Herr Markwort!
Das drittbeste Lied aus dem deutschsprachigen Raum soll "Rivers of Babylon" von Boney M sein! *michvorlachenaufdenbodenschmeiß* Da tanz' ich lieber hundertmal den Mussolini, als daß ich einmal die mesopotamischen Wässer durchschwimme.
Freddy und das Meer ist immerhin das dreizehntbeste deutsche Lied, womit auch elegant der donaldistische Bezug dieses Beitrags hier hergestellt wäre. Altes Entenhausener Liedgut - einmalig! Könnt' ich stundenlang hören! Dreh lauter, Daunensteert, und wenn uns darob der Damm unter den Wagenrädern wegbricht.
Zum Heiligen Jahr 1984: Das Pinke, Poppige, Peppige der 80er war 1985 und 1986 sicherlich nicht minder starkt, dennoch weist 1984 viel stärker noch das Früh-80er-hafte, das ja in der vorherigen Mischzeit zu den 70ern bereits da ist, auf, allerdings nun frei von allen 70er-Rückständen wie in den Jahren davor. Es vereint somit die verschiedenen 80er-Jahre Facetten in komprimierter Form in sich und ist in schillernder und einzigartiger Weise somit das 80er-Jahr schlechthin.
Als jenen Schicksalstag und Flucht- und Mittelpunkt der Epoche, an dem sich Zeit und Raum verdichteten, habe ich inzwischen den 11. August 1984 ausgemacht: "Meine amerikanischen Mitbürger, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß ich soeben ein Gesetz unterzeichnet habe, durch das Rußland für immer geächtet wird. Die Bombardierung beginnt in fünf Minuten."
Der "Stern" befragte übrigens daraufhin Amerikaner, was sie von den Bombenscherzen des Ronald Reagan hielten. Neben allerlei belanglosen Stellungnahmen, die Ablehnung ("Zur Hölle mit dem Präsidenten") oder Zustimmung ("Ein großartiger Scherz. Reagan ist kein übler Kerl. Ich werde ihn wieder wählen") ausdrückten, sowie dem üblichen schlaumeierischem Gewäsch ("Eine Freudsche Fehlleistung, die erkennen läßt, was in seinem Kopf vorgeht"), findet sich die bemerkenswerte Stellungnahme des Ingenieurs Melvin Daphin aus Pasadena/Kalifornien: "Es ist 1984, Mann. Da überrascht mich überhaupt nichts" - Jawohl, der Mann hat erfaßt, was Sache ist.
In eigener Sache muß ich anmerken, daß ich zwar die Vorzüge der 80er und 90er genieße, aber niemals selbst einer segmentierten Gruppe angehört habe. Vor allem für die Peinlichkeit gewisser Kleidungskodizes solcher Gruppen und überhaupt von Modetrends hatte ich schon immer ein feines Gespür, weshalb keine Schandfotos von mir existieren. Mein Haarschnitt (vorne an der Stirn länger als hinten, in der Hals- und Nackengegend kurz, oben länger) ist und war schon immer für alle Jahrzehnte von ca. 1920 bis heute kompatibel, und ebenso HJ- wie Popper-tauglich, allenfalls in den 70er Jahren wäre ich damit deplaziert gewesen und als "zu brav" erschienen. Auch für Club-Ziegenbärtchen und ähnlichen Scheiß habe ich nur Hohn und Spott übrig, glattrasierte Wangen sind das einzig Wahre. Des weiteren sind mir Bizarrerien der Kleidung abhold: zwar ist die Aufhebung des Jeans-Zwanges und der Sieg von allerlei Cargo- und Armeehosen ein Fortschritt, den ich beklatsche und mitmache, doch mit Staunen und Verachtung registriere ich, wie stark bei sogenannten Szenegängern und Modedeppen beinahe hautenge Hemden und T-Shirts (bei Männern wohlgemerkt) in scheußlichen Farben und Mustern verbreitet sind. Ja ich behaupte gar, daß ich tatsächlich der einzige junge Mann in Berlin bin, der absolut normal und unlächerlich aussieht.
Kurz und gut: Meine musikalische Vorliebe bewegt sich für die 80er und 90er zwar schon auf einer Schiene, die man sehr allgemein "elektronische Musik" nennen könnte, doch ist die Massenmusik der Charts da durchaus mit inbegriffen, und hier und da mögen auch Bereiche erfáßt sein, die gar nichts mit der Hauptschiene zu tun haben. Ohne einer Gruppe, einem Segment je angehört zu haben, habe ich somit den souveränen Blick auf die Jahrzehnte und nehme, was immer mir gefällt. Zu Blondie und Kim Wilde sage ich deswegen ja und amen, und ich würde gar den Soundtrack von "Beverly Hills Cop" als eine erquickliche Hintergrundmusik für das Jahr 1984 ansehen, was womöglich einen echten Alt-Popper wie Dich laut aufstöhnen läßt (aber nicht vor Freude), das weiß ich nicht.
Gegen Nirvana auf einer 90er-Party hätte ich nichts, obwohl mir eigentlich immer ein Rätsel war, was an "Smells like Teen Spirit", diesem "Schlüssellied", das angeblich das Lebensgefühl einer Generation ausdrückt, soooo toll ist (ist ungefähr genau so nett-lau wie das "Schlüssellied" einer anderen Generation: "Born to be Wild" - Wenn man's fünfmal am Stück gehört hat, ist man's schon über), da ist die "Unplugged"-CD, auf der dieses Lied gar nicht drauf ist, schon besser. Bei Wolfgang Petry hört allerdings auch für mich der Spaß auf...